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Logozid Oder:
Wie hoch ist die dosis lethalis bei Anglizismen? (1999)
Der folgende Text datiert aus dem Jahr
1999. Er bezieht sich auf Veröffentlichungen der in ihm genannten
Organisationen und Institute aus jenem Jahr und wurde unverändert
übernommen.
Das Mannheimer Institut für Deutsche Sprache, bekannt
als Mittäter der neuen Rechtschreibreform, will in neuen Wörterbüchern zunehmend
englischsprachige Begriffe aufnehmen, die in den letzten Jahren einen festen Platz im
Deutschen erhalten haben: "Update", "online", "Browser" und
andere Termini aus der Welt der Computer und des Internets.
Vermutlich hätte diese Neuigkeit nur in Fachkreisen
Beachtung gefunden , wenn es nicht einen "Verein zur Wahrung der deutschen
Sprache" gäbe, dessen Vorsitzender sich bei jeder Gelegenheit publizistisch
äußert. So auch jetzt:
Der "Verein zur Wahrung der
deutschen Sprache e.V." will verhindern, daß englische Computer-Vokabeln wie
"upgrade" oder "downloaden" durch die Aufnahme in Wörterbücher auch
offiziell zum Teil der deutschen Sprache werden. Der Vereinsvorsitzende Prof. Dr. Walter
Krämer: "Ich kann die einschlägigen Vorschläge des Instituts für deutschen
Sprache in Mannheim nicht nachvollziehen. Es gibt es für einen großen Teil des
englischen Computer-Jargons perfekte und oft bessere deutsche Wörter, angefangen mit dem
Computer selbst. Der hieß früher immer und bei wahren Profis auch noch heute Rechner.
Außerdem weichen viele Anglizismen den Tiefencode der deutschen Sprache auf - man weiß
nicht mehr, in welcher Sprache man sich eigentlich bewegt (downloaded, gedownloaded oder
downgeloaded?) Sie erleichtern nicht die Verständigung der Menschen, sie erschweren
sie." (Auf der ehemaligen Homepage des Vereins - jetzt hier) |
Abgesehen davon, daß die "wahren Profis" ihr
Arbeitsgerät mal "Rechner", mal "Computer", zuweilen auch
"PC" nennen oder zu exotischeren Begriffen wie "Workstation",
"Server", "Sun", "3000"
usw. greifen, um sich etwas genauer auszudrücken, oder unfein von ihrer "Kiste"
sprechen - in die Allgemeinsprache sind auch Wörter anderer Fachsprachen hineingekommen,
z.B. des "Medizin-Jargons", in der Regel lateinischer und altgriechischer
Herkunft. Wenn der "Doktor" (lateinisch "doctor", von
"docere") eine "Koronarangiographie" anordnet, wird der eifrige
Sprachschützer jedoch vermutlich keinen Ausbruch von Zorn, sondern eher von Angstschweiß
an sich erleben.
Obwohl die Fremdwörter genannten Bestandteile unserer
Sprache ebenfalls "nicht die Verständigung der Menschen" erleichtern, falls
diese sie nicht kennen, haben unter den konservativen Sprachwahrern lateinische,
griechische und französische Wörter einen meist guten Ruf. Ihre Beherrschung gehört in
ihren Kreisen sogar zur "klassischen Bildung", wobei man unter
"Klassik" ausdrücklich die "Antike" versteht. Das hat Tradition. Noch
heute gibt es an deutschen Universitäten die Möglichkeit, die Doktorarbeit nicht auf
Deutsch, sondern Latein abzuliefern - in der "Gebildetensprache", in der
in früheren Jahrhunderten der gesamte universitäre Lehrbetrieb abgewickelt wurde.
Mittelalterliche Texte aus deutschen Landen - einen deutschen Staat im heutigen Sinne gab
es nicht - waren, bis auf Ausnahmen, allesamt lateinisch.
Deutsch, und zwar ihre jeweilige Regionalsprache
(Bayerisch, Alemannisch, Fränkisch usw.), sprach das in der sozialen Hierarchie unten
stehende Volk. Womit schon der Hauptpunkt genannt ist: Das Deutsche genoß bei Königen,
Fürsten, Rittern, Mönchen usw. kein gutes Ansehen. Daß Luther die Bibel vom
Lateinischen ins Deutsche übersetzte, war daher ein revolutionärer Akt. Trotzdem
brauchte es noch Jahrhunderte, bis seine Sprache, die mehrere Dialekte einbezog, sich
durchsetzen konnte.
Nachdem in den Bauernkriegen des 16. Jahrhunderts und im
Dreißigjährigen Krieg des 17. Jahrhunderts die sozialen Strukturen der deutschen Länder
bis hin zur Auflösung zerstört worden waren, wurde, zunächst an den Fürstenhöfen,
dann auch in den bürgerlichen Schichten, Französisch die Prestigesprache, neben Latein,
das als Universitätssprache nach wie vor vorgeschrieben war. Erst in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhundert änderte sich dies: Der Philosoph Immanuel Kant, der seine
Dissertation noch in Latein verfaßt hatte, lehrte und schrieb auf Deutsch.
Philosophiestudenten, für die sowohl das Große Latinum als auch das Graecum
vorgeschrieben sind, atmen immer erleichtert auf, wenn es denn endlich an die "Kritik
der reinen Vernunft", Kants Hauptschrift, geht.
Das Deutsche als allgemeine Bildungs-, Geschäfts- und
Verwaltungssprache setzte sich erst in den folgenden Jahrzehnten durch. Seit 1750 wuchs
das deutsche Schrifttum gewaltig an: Ein Buchmarkt entstand, in dem fast nur deutsche
Titel vertreten waren. Die Besetzung der deutschen Länder durch die Truppen Napoleons
brachte dann den richtigen Schub: Jetzt entwickelten Teile der Bevölkerung, vor allem
Studenten, eine nationale Identität als Deutsche. Im 19. Jahrhundert wurden die
wichtigsten wissenschaftlichen Werke über die Entwicklung und Strukturen der deutschen
Sprache geschrieben.
Mit der Entwicklung eines übersteigerten
Nationalbewußtseins im 19. Jahrhunder wurde Deutsch vielfach als
"Herrensprache" begriffen, gegenüber den slavischen Sprachen des Ostens oder
Jiddisch. Das tat der Bedeutung, die Deutsch in der akademischen Welt mittlerweile
genoß, keinen Abbruch, kündigte aber eine Wende an. Bis 1933 waren deutschsprachige
Wissenschaftler an wichtigen Entdeckungen beteiligt, zogen deutsche Soziologen,
Philosophen und Psychologen ausländische Studenten magisch an.
Zwei Weltkriege und die Verbrechen Nazideutschlands haben
das hohe Ansehen, das die deutsche Sprache international. u.a. als Wissenschaftssprache,
gewonnen hatte, sehr gründlich zerstört. Grund war auch, daß ein Teil der gebildeten
Schichten, die Juden, vertrieben oder ermordet wurde. Der vielfach beklagte Verlust an
deutschsprachiger Kompetenz in den strategischen Wissenschaftsbereichen (Natur- , Sozial-
und Wirtschaftswissenschaften) ist ohne diese historischen Ereignisse nicht zu verstehen.
Freud, Einstein, Oppenheimer, Horkheimer, Adorno und viele andere waren nach England oder
in die USA gegangen.
Spätestens nach Ende des 2. Weltkriegs wurde Englisch
zur prestigeträchtigsten Sprache. Fast alle relevanten Entwicklungen in den Bereichen
Mikroelektronik, Software, Medizin, Physik, Chemie, Soziologie, Psychologie und Ökonomie
wurden in den USA durchgeführt. Dazu kamen die propagandistische Wirkung des
"American way of life" sowie die Produkte der amerikanischen Filmindustrie und
Musik. In Deutschland wurde der Versuch, einen politischen und kulturellen Neuanfang zu
machen ("Stunde Null"), durch die "Restauration" alter Strukturen
zunichte gemacht. In der Ära Adenauer und danach gelangten viele Nazis, die nicht zu den
Führungsfiguren des "Dritten Reiches" gehört hatten, an die Schaltstellen der
Macht und bestimmten die gesellschaftliche Entwicklung. Kulturell war, zumindest die
Bevölkerung der ehemaligen Westzonen, noch immer in den Strukturen des totalitären
Obrigkeitsstaates befangen. Anstatt sich mit dem Desaster auseinanderzusetzen, wurde in
der Tradition der Nazi-Kultur eine Entpolitisierung vorgenommen: sichtbar in den Filmen,
bei denen auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist, ob sie vor oder nach 1945 gedreht
wurden.
Für die nachwachsende Generation bot sich in dieser Zeit
im wesentlichen nur die amerikanische Kultur als Leitsystem an. Rock'n Roll, Jazz,
Hollywood, Raumfahrt, Computer, daran orientierte man sich. Erst der Vietnamkrieg führte
zu Brüchen, ohne allerdings die Bezugnahme auf die amerikanischen Kulturen - denn von einer
Kultur dort kann man eigentlich nicht sprechen - zu zerstören.
Es wird die Konservativen in Deutschland allerdings kaum
beruhigen, daß sie zu den Ursachen zunehmender Übernahmen englischer Wörter in die
deutsche Sprache gehören. Im Gegenteil: Sie haben mangelndes Nationalbewußtsein,
Minderwertigkeitsgefühle, Desinteresse, Geltungsdrang und modisches Gehabe als
"Krankheitsherde" ausgemacht. Selbstkritik und Einsicht in eigene Fehler waren
noch nie ihre Sache.
Mit dem Internet setzt sich das Englische immer mehr als
lingua franca durch. Damit bleibt eine Zunahme des Imports englischer Wörter ins Deutsche
nicht aus. Trotzdem zählt die deutsche Sprache unter Linguisten keineswegs zu den bedrohten Sprachen. Als drastisch
gelten z.B. die Entwicklungen, die das Englische nach der normannischen Eroberung 1066
durchgemacht hat, also in etwa vom Altenglischen (Angelsächsisch) [Beispiel
aus dem Beowulf] hin zum Mittelenglischen. Und dennoch könnte man mitnichten
davon reden, daß eindringende altfranzösische Sprachelemente das Englische zu einer
germanisch-romanischen Mischsprache gemacht hätten.
Anmerkung 2012: Ein zeitnah in der Nähe
des Inhalts dieser Webseiten geschriebener Aufsatz ist
Peter Schlobinski: Anglizismen im Internet. Networx-14 2000, der
etliche Phänomene zum Thema näher beleuchtet. |