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Kanzlerdeutsch
(Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern) Nachdem die deutschen Zeitungen und Zeitschriften zwischen 1996 und 1998 die
Vorschläge der Rechtschreibreformer mit (zum Teil beißender) Kritik
bedacht hatten, haben die
meisten von ihnen zum 1. August 1999 ihre Texte auf eine Variante der neuen deutschen
Rechtschreibung umgestellt. Einige brachten dazu teils flapsig formulierte, teil mit
interessanten Begründungen garnierte Artikel, wie z.B. die Berliner Tageszeitung (taz) oder die c't,
um die Reformunwilligen unter den Lesern zu verunsichern bzw. zusätzlich vor den Kopf zu
stoßen.
Zeigen sich schon bei den beiden größten
Wörterbüchern (Duden, Bertelsmann) Unterschiede in der Umsetzung der neuen
Rechtschreibregeln, so wenden die Agenturen, nach denen sich die Printmedien richten, nur
eine Untermenge des Regelwerks an (siehe dpa;
downloadbare Dateien mit den Agenturregeln). Andererseits verfahren sie
in vielen Fällen starrer als das Original (z.B. ist neben dem neuen
"selbstständig" auch "selbständig" zulässig ist, die Printmedien
verwenden nur das barock-gespreizte Doppel-"st").
Die Wochenzeitschrift DIE ZEIT hat sich eine eigene
Hausorthographie ausgedacht, die von Dieter E. Zimmer in Heft 24 (online
nicht mehr verfügbar) ausführlich vorgestellt wurde.
Einige Zeitungen und Online-Medien beschränken sich
nicht darauf, ihre Rechtschreibung anzuwenden, sondern betätigen sich zugleich
als Schulmeister ihrer Leserinnen und Leser, denen Tag für Tag, Woche für Woche
Rechtschreibregel-Übungen zugemutet werden. Entgegen der offiziellen Version, wonach
lediglich an Schulen und Behörden die neuen Regeln Vorschrift sind, behaupten sie, daß
ab dem 01.08.2005 jeder Bürger sie zu verwenden hat (oder gar: "Seit dem 1. August
gilt die neue Rechtschreibung. Um es Ihnen leichter zu machen, können Sie in unserem
EXPRESS ONLINE Special alle
wichtigen Regeln noch einmal nachlesen."
Reform wider Willen
Am 11.03.1998 schrieb Dankwart Guratzsch noch in der
WELT: "Die neue Rechtschreibung (...) wird zum obrigkeitsstaatlichen Diktat von 16
Beamten, die einer Sprachgemeinschaft von 100 Millionen Menschen befehlen wollen, wie sie
gefälligst zu schreiben, zu differenzieren und zu denken haben." (Diktat des
Lächerlichen) Vom Bundespräsidenten (Herzog damals: "Diese Reform ist
überflüssig wie ein Kropf") und Bundeskanzler bis zum einfachen Bürger waren alle
gegen die neue Rechtschreibung. Da die Einführung der Reform in den Schulen in den
Bereich Bildung gehört und somit Ländersache war, hatten jedoch die Kultusminister zu
entscheiden. Nachdem auf Betreiben Bayerns einige Vorschläge aus dem Regelwerk wieder
herausgenommen worden waren, setzte die Kultusministerkonferenz, gegen die Öffentliche
Meinung und gegen Proteste einer großen Zahl deutschsprachiger Schriftsteller und
Sprachwissenschaftler die Reform durch. Die wirtschaftliche Lage der Schulbuchverlage, die
bereits Millionen in neue Wörter- und Lehrbücher investiert hatten, war für sie
wichtiger.
Den Gegnern der Rechtschreibreform in den Reihen
betroffener Eltern, die ihr Erziehungsrecht verletzt sahen, blieb nur der Weg zu den
Gerichten; nach anfänglichen Erfolgen wies jedoch das Bundesverfassungsgericht am
14.07.1998 eine Verfassungsbeschwerde gegen die Reform ab. In einigen Bundesländern, die
die Möglichkeit des Volksentscheids zulassen, sollten die betreffenden Landesregierungen
gezwungen werden, sie wieder rückgängig zu machen; bisher ist dies nur in
Schleswig-Holstein gelungen. In anderen Bundesländern wie Berlin wurde die
Unterschriftensammlung, die einer Volksabstimmung vorangehen muß, so behindert, daß die
erforderliche Zahl Unterschriften nicht zusammenkam. Auch in Bremen scheiterte ein
entsprechender Versuch.
"The Independent"
(London) über die deutsche Rechtschreibreform: Wie wird
"Ketchup" geschrieben? Sollte man einen Buchstaben haben, der wie ein
griechisches Beta aussieht, aber wie ein scharfes S gesprochen wird und jeden verwirrt?
Die deutschen Wörterbuchverfasser haben jahrelang solche existentiellen Fragen
diskutiert. Die Art, wie sie entschieden werden, scheint unsere nationalen Vorurteile zu
bestätigen: Die Briten sind für lexikalischen Pragmatismus, die Franzosen halten sich an
die Akadémie Française, die Deutschen warten auf Befehle von oben. Nur stellt sich jetzt
heraus, daß sie das gar nicht tun. Einer Umfrage zufolge will nur jeder sechste dem neuen
Edikt folgen. Wir müssen uns neue Vorurteile suchen. (taz 4.8.1999, an die alte Rechtschreibung angeglichen) |
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