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Sprache und Sprache
Die Betrachtung der deutschen
Sprachgeschichte orientiert sich in der Regel an Texten. Von der Antike bis in die
frühe Neuzeit war nur ein kleiner Personenkreis fähig, sich schriftlich zu äußern. Die
germanischen Völker hatten zunächst nur eine Oralkultur. Die von ihnen überlieferten
Texte sind allesamt erst aufgezeichnet worden, als sie in ihren neuen Stammesgebieten in
Europa seßhaft geworden waren und Kontakte hatten zu Personen, die im lateinischen
Sprachraum schreiben gelernt hatten. Die mündlichen Erzählungen und Gedichte der
europäischen Neubürger klingen für heutige Ohren ausgesprochen fremdartig; die
Heldengedichte wirken wie ein Singsang mit ihren langen Silben und Stabreimen. Ein
Beispiel aus dem angelsächsischen Beowulf:
Hwæt! We
Gardena |
in geardagum, |
LO,
praise of the prowess of people-kings |
þeodcyninga, |
þrym gefrunon, |
of
spear-armed Danes, in days long sped, |
hu ða
æþelingas |
ellen fremedon. |
we
have heard, and what honor the athelings won! |
Oft Scyld
Scefing |
sceaþena
þreatum, |
Oft
Scyld the Scefing from squadroned foes, |
monegum
mægþum, |
meodosetla ofteah,
|
from
many a tribe, the mead-bench tore, |
egsode eorlas. |
Syððan ærest
wearð |
awing
the earls. Since erst he lay |
feasceaft
funden, |
he þæs frofre
gebad, |
friendless,
a foundling, fate repaid him: |
weox under
wolcnum, |
weorðmyndum þah, |
for
he waxed under welkin, in wealth he throve, |
oðþæt
him æghwylc |
þara ymbsittendra
... |
till
before him the folk, both far and near,
(Beowulf on Steorarume) |
Das Beowulf-Manuskript entstand gegen 1000. 1731 wurde es bei einem Brand
versengt, so daß die Buchstaben an den Rändern nicht mehr gut lesbar waren. 1787 hat ein
isländischer Gelehrter Kopien erstellt, zum Glück, denn mittlerweile ist es sehr
zerbröselt. Das Lied über den Dänenkönig Beowulf (und vielleicht Vorbild für
Shakespeares Hamlet) spiegelt einen jüngeren Sprachstand, entsprechend dem Datum seiner
schriftlichen Aufzeichnung, ein Schicksal aller Oralliteratur, die z.T. erst Jahrhunderte
nach ihrer jeweiligen Entstehung schriftlich festgehalten wurde. Während es für das
Altenglische vergleichsweise viele solcher Texte gibt, weist das Althochdeutsche außer
dem Fragment des Hildebrandsliedes nur ein paar Sprüche sowie eine Reihe von
Interlinearübersetzung der lateinischen Bibel, der Vulgata, auf. Ein Zeichen dafür,
daß das Interesse der Mönche, die die in Mitteleuropa lebenden Völker missionierten,
für deren Sprache und Erzählungen sehr gering war. Das von vielen Deutschen für ein
Nationalepos gehaltene Nibelungenlied ist hingegen mittelhochdeutsch und im bairischen
Sprachraum entstanden:
Uns ist in alten maeren |
wunders vil geseit |
von heleden lobebaeron, |
von grozer arebeit, |
von froude und hochgeziten, |
von weinen und von klagen, |
von kuener recken
striten |
muget ir nu wunder hoeren sagen |
(Quelle: bibliotheca Augustana)
Die Literatur des Hochmittelalters war sehr stark an altfranzösischen und
immerhin gehörte das Königtum Burgund seit 1033 zum Reich provençalischen
Vorbildern orientiert; der Endreim, im Deutschen bis dahin unbekannt, wurde aus diesen
Literaturen importiert. Das Nibelungenlied enthält allerdings mit der Aufteilung in
Halbverse noch die Struktur des germanischen Heldenlieds. Die meisten der übrigen
literarischen Werke dieser Zeit hatten ihre formalen und stofflichen Vorbilder jenseits
des Rheins: Minnegesänge, Artusepen (Erec, Iwein, Tristan).
Die schriftlich überlieferte Sprache ist indes nur eine kleine Teilmenge der deutschen
Sprache - bzw. Dialekte, in denen sich der Großteil der Bevölkerung verständigte. Für
sie gab es nicht Deutsch, sondern Fränkisch, Bairisch, Alemannisch, Sächsisch usw. In
der Hanse, die sich auch auf nicht-deutsche Länder ausgedehnt hatte, war der Lübecker
Dialekt lingua franca, weswegen das Niederdeutsche in zahlreiche Urkunden Einzug fand.
Erst als die Städte immer bedeutsamer wurden, fanden sich dort immer mehr Bürger, die
sich für die schriftliche Form ihrer Sprache interessierten. Auch viele der
mittelhochdeutschen Texte adliger Herkunft wurden von Mitgliedern der städtischen
Patrizier gesammelt und kopiert (berühmtestes Beispiel: die
Manessische Liederhandschrift). Gegen Ende des Mittelalters und zu
Beginn der Neuzeit verbreiterte sich der schriftsprachliche Bereich des Deutschen, obwohl
viele der Schreibenden, vor allem im akademischen Bereich, nach wie vor Latein schrieben.
Als prägend für die Ausbildung einer gesamtdeutschen Sprache gilt die
Bibelübersetzung von Luther (1483-1546). Für das 1521 erschienene Neue Testament hatte
Luther die sächsische Kanzleisprache sowie die Sprache der Menschen gewählt, die
östlich von Elbe und Saale siedelten und aufgrund ihrer unterschiedlichen
Herkunftsdialekte zu einer gemeinsamen Sprache finden mußten. Luther bezog Formen und Wortschatz vieler Dialekte
ein, um die Grundlage für eine größtmögliche Verbreitung seines Werks zu erhalten. In
den evangelisch regierten Ländern wurden seine Kirchenlieder gesungen, und Generationen
von Konfirmanden mußten die Lieder und eingedeutschten Psalmen auswendiglernen. Die
bäuerliche Bevölkerung kannte ein scharf abgegrenztes Nebeneinander von Dialekt
einerseits und pastoralem Deutsch andererseits, das sie als Quasi-Fremdsprache empfand.
Bis das Deutsche sich als allgemeine Schriftsprache durchsetzen konnte, brauchte es
jedoch noch einige Jahrhunderte. Weniger die Werke deutschsprachiger Wissenschaftler und
Dichter, die in ihrer Zeit nur von einer kleinen Minderheit gelesen werden konnten, als
die Einführung der allgemeinen Schulpflicht und der allgemeinen Wehrpflicht war dafür
ausschlaggebend. Aber auch da gab es noch Privilegierte, die aufgrund ihrer sozialen
Herkunft länger die Schule und anschließend die Universität besuchen konnten und die
daher wesentlich mehr Gelegenheit fanden, ihre sprachliche Ausdrucksfähigkeit zu
entwickeln.
Von seiner kirchlichen und obrigkeitsstaatlichen Herkunft her ist das Deutsche als
nationale Allgemeinsprache sehr stark an einem bestimmten Reglement orientiert. So gehört
es nach wie vor zu den Aufgaben des Deutschunterrichts, das Deutsche als regulierte
Sprache zu vermitteln. Die Grammatik, die die Schüler lernen, läßt sich aus den
Lateingrammatiken herleiten, die ihrerseits ihre Herkunft in den rhetorischen Handbüchern
der römischen Antike hatten. Grammatik ist hier letztlich ein Kanon stilistischer Regeln.
Die Dialekte sind inzwischen sehr stark an den Rand gedrängt und spielen als Motor
für sprachliche Entwicklungen kaum noch eine Rolle. Dies haben weitgehend die
Fachsprachen übernommen, deren Bedeutung in der Industriegesellschaft sehr stark
zugenommen hat. Viele in der Alltagssprache vorhandene Begriffe stammen aus
fachsprachlichen Terminologien, vom "Auto" über "Telefon" bis zum
"Computer". Die deutschsprachige Literatur bedient sich seit Expressionismus,
Dadaismus und Surrealismus mehr oder minder starker Regelverletzungen, nicht nur von
überlieferten poetischen Konventionen, sondern auch von grammatikalischen und
orthographischen Normen. Die provokative Wirkung solcher Regelverletzungen reicht nicht
zuletzt über den Deutschunterricht in größere Teile der Bevölkerung hinein; die
verwendeten Muster finden entsprechende Nachahmer.
Die Klage über die Anglizmen starrt nur auf die phonetisch englischsprachigen Wörter,
übersieht indes, daß es im Deutschen mittlerweile Lehnübersetzungen englischer Wörter
und Wendungen gibt, die gar nicht als fremdartig empfunden werden, weil sie im vertrauten
Klang daherkommen. "Man sieht sich" beim Abschied ist dem Ausdruck "See
you" nachgebildet. Statt "im Jahre 1999" (oder auch unmarkiertem
"1999") wird heute immer mehr "in 1999" verwendet, das Anfang der 80er
Jahre aufkam und sich in Wirtschaft und Bürokratie wie ein Lauffeuer ausbreitete.
"Die deutsche Sprache", wie sie von Sprachschützern gern emphatisch genannt
wird, als Nationalsprache hat es in seinen Anfängen nicht gegeben. Genauso wie
Französisch oder Englisch ist Deutsch das Produkt einer jahrhundertelangen Entwicklung,
an deren Beginn zunächst einmal die Sprachen derjenigen Völker standen, die später zu
einem staatsähnlichen Gebilde zusammenfanden. Diese - germanischen - Sprachen sind nicht
in jedem Falle die direkten Vorläufer heutiger deutscher Dialekte. Das heutige Sächsisch
z.B. hat mit dem Altsächsischen gar nichts zu tun, aus ihm sind die niederdeutschen
Dialekte, das Friesische und teilweise auch das Englische (Angelsächsisch) entstanden. In
den Gebieten östlich der Elbe, die im frühen Mittelalter hinzuerobert wurden,
beeinflußte die Sprache der dort ansässigen balto-slavischen Völker die Sprache der
Nachfahren der Eroberer, am extremsten ausgeprägt im ostpreußischen und schlesischen
Dialekt ("scheen" statt "schön"). Zu den wendischen, prutzischen,
schlesischen und polnischen Einflüssen kam später auch das Jiddische, das in den
Großstädten der östlichen Provinzen von den dort lebenden Juden gesprochen wurde. An
der häufiger verschobenen Westgrenze des Deutschen Reiches machte sich der Einfluß des
Französischen bemerkbar.
Die schriftsprachliche Verwendung der germanischen Sprachen
im Ostfrankenreich ist der Initiative Karls des Großen und Ludwigs des Deutschen zu
verdanken, die damit eine Selbständigkeit gegenüber dem stärker romanisierten
Westfrankenreich betonen wollten. Die Schaffung einer Nationalsprache, was eine
Vorrangstellung von Fränkisch gegenüber Alemannisch, Bairisch (zusammen mit dem
Langobardischen der Lombardei zu Althochdeutsch zusammengefaßt) und Sächsisch
(Altniederdeutsch und Angelsächsisch bezeichnen dieselbe Sprache in ihren dialektalen Varianten) bedeutet hätte, war nicht
intendiert.
Auch muß durchaus die unter den fränkischen Merowingern unter Chlodwig (482-511)
begonnene Strategie der Verschmelzung von Galloromanen und Franken in ein gemeinsames
Staatswesen als politisches Erfolgsrezept gewertet werden, war die Dauer
der anderen Germanenreiche Vandalen im Maghreb (429-534), Westgoten in Aquitanien
(419-507) und Spanien (507-711), Ostgoten in Italien (493-553), Langobarden in Italien
(568-774), Burgunder im Rhônetal (443-543) , die sich allesamt durch kolonialistische
Separationspolitik auszeichneten, doch wesentlich beschränkter. Man könnte schließen,
daß nationale Ambitionen im Sinne einer Einheit von
"völkischer" Abstammung, Kultur und Sprache damit schon aufgegeben waren, bevor
sie jemals formuliert wurden. M.a.W.: Nationalismus ist eine Regressionsphantasie zu einem
Rousseau'schen Paradies, das es nie gegeben hat.
Der Wille zur Selbständigkeit zeigt sich auch darin, daß mit Heinrich I. 919 die
Herrschaft von der ausgestorbenen Linie der ostfränkischen Karolinger, nachdem Konrad I.
von Franken sich 911-918 nicht durchsetzen konnte, auf die sächsische Dynastie der
Ottonen übergeht, anstatt sich dem Karolingerherrscher in Westfranken anzuschließen und
damit die Reichseinheit wiederherzustellen. Nach der Untwerfung des Gegenkönings Arnulf
von Bayern 921 und der Rückkehr Lothringens ins Ostreich 925 wird schon Heinrichs I. Sohn
Otto der Große 936 von den Herzögen des Ostreichs unterstützt (der letzte traditionelle
Stammesherzog, Tassilo von Bayern, war schon 788 von Karl dem Großen
eliminiert worden, auch wenn sich neue Stammesherzogtümer durch die
Auflösung der Zentralgewalt unter Ludwig dem Kind 900-911 bildeten). 939 kommt es zu
einem Aufstand der Herzöge Eberhard von Franken und Giselbert von Lothringen, die in der
Schlacht von Andernach von Hermann von Schwaben geschlagen werden. In der Folge wird
Franken eingezogen, Lothringen geht an Konrad den Roten, Bayern an Ottos ehemaligen
mitaufständischen Bruder Heinrich, Schwaben an Liudolf, alles Ottos Verwandte.
Ethnizität und Herkunft sind durch diese letztlich kolonialistische
Strategie (ironischerweise von Seiten von Sachsen, die die Opfer der Pogrome
Karls "des Großen" 772-804 waren) als politischer Faktor endgültig eliminiert,
auch wenn es 953/4 nochmals zu einem Aufstand von Liudolf und Konrad dem Roten kommt,
infolge dessen Schwaben an Burkhard III. und Lothringen an Ottos Bruder Brun, Erzbischof
von Köln, geht. Nach Ottos "Rettung des Abendlandes" durch seinen Sieg über
die Ungarn auf dem Lechfeld und die Slaven an der Recknitz 955 wird im Jahr 962 seine
deutsche Königskrone mit Zustimmung des Papstes auf Dauer mit der römischen Kaiserkrone
verbunden. Die bevorzugte Sprache in einem Reich, das sich als heiliges römisches,
wenn auch deutscher Nation verstand, wird längst nicht nur in klerikalen,
sondern gerade auch säkularen Kontexten bis zu dessen Ende 1806 Latein bleiben
(auch wenn Herrscher es nicht unbedingt beherrschten). Ironischerweise trug man damit auch
zum Siegeszug des Französischen als Diplomatensprache bei, denn die Franzosen hätten in
Verhandlungen und Vertragsabfassungen vom Westfälischen Frieden 1648 bis zum Frieden von
Rastatt 1714 sehr wohl Deutsch akzeptiert, nicht jedoch Latein.
Ein derlei beschaffenes staatliches Gebilde war natürlich anfälliger für die
katastrophalen Entwicklungen der Bauernkriege und der Reformation, die kein anderes Land
religionspolitisch so tief spalten und den Verheerungen des 30-jährigen Krieges aussetzen
konnte. Diese Demoralisierung zeigt sich auch in der Hinwendung zum Französischen der
Ober- und Mittelschicht. Eltern hielten ihre Kinder an, mit ihnen und untereinander
möglichst nur noch Französisch zu sprechen und den Gebrauch der Muttersprache auf das
Hauspersonal zu beschränken. Voltaire schrieb gar in einem Brief, als er sich 1750 am Hof
Friedrichs in Berlin aufhielt: "Ich bin hier in Frankreich. Man spricht
ausschließlich unsere Sprache. Deutsch ist nur für den Umgang mit Soldaten und Pferden
nötig". |